Es gehört zu den grossen Ungerechtigkeiten des Lebens, dass wir uns selbst nicht von Aussen sehen.
Wir werden nie wissen, wie unsere Eltern, Geschwister, geliebten Menschen, unsere Kinder oder auch nur Fremde auf der Strasse uns wahrnehmen; wie ihr Bild von uns sich von unserem Selbstbild abweicht.
Sicher, wir können fragen, was sie wirklich von uns denken, aber wer das schon versucht hat, weisst: Die anderen sind höflich; sie sagen, was wir hören wollen, oder was sie glauben, wir im dem Moment hören sollen. Vielleicht ist es sogar ein Zeichen der Liebe, dass sie uns die ganze Wahrheit nie sagen.
Wenn wir das wüßten, könnten wir eine Menge über uns lernen. Wir könnten uns auf vielerlei weise verbessern, unsere schlechten Gewohnheiten erkennen und ändern, unsere Vorteile erkennen und verstärken.
Vielleicht würden wir lernen, uns selbst mehr zu lieben, wenn wir sehen, was andere Menschen in uns sehen und schätzen.
Anderseits könnte es auch schiefgehen: Vielleicht würden wir dann uns so sehr anstrengen, uns nach ihren Vorstellungen zu verändern, bis wir uns selbst nicht mehr sind.
Aber eins, glaube ich, ist sicher:
Die anderen sehen uns anders, als wir uns sehen.
Ein Beispiel aus meinem Leben:
Ich war ein schüchterner, in sich gekehrter und ungelenker Junge und traute mir nichts zu. Im Gegenteil, ich schämte mich über mich selbst. Einmal, als Teenie, hatte ich kurz mit einem fremdem Mann zu tun – ich musste ihm nur etwas abliefern, oder ähnliches. Ich klingelte, übergab ihm das Was-auch-immer-das-war, und er sagte ein paar nette, unverbindliche Worte – einschliesslich die Worte, “Du bist aber ein gutaussehender Junge, ich wette, du machst die Mädchen ganz verrückt.”
Es verstörte mich. Ich frage mich sogar, ob er mich absichtlich anlog, um mich zu manipulieren, mit bösen Absichten. (Heute wäre er wahrscheinlich für diese Bemerkung verhaftet worden!)
Wahrscheinlicher ist es, dass er es nett meinte. Er war an dem Tag gut drauf und wollte mit Komplimenten großzügig um sich schmeißen. Vielleicht sah er eine Schüchternheit an mir und wollte mir Mut zusprechen.
So oder so: Ich fragte mich, ob ich mich richtig sah, ob mein Selbstbild realistisch war, und ob andere Menschen ein ganz anderes Potential an mir sahen, die ich nicht sah.
(Ich hatte übrigens auch negative Erlebnisse dieser Art – in denen ich erkennen müsste, dass andere mich viel negativer sahen, als ich mich selbst sah).
Die Aufgabe:
Finde in deiner Vergangenheit eine solche Szene, in dem ein Junge oder ein Mädchen vorkommt.
Denk dich in deine Schulzeit zurück. Du bist jung, noch nicht völlig geformt, in den Klauen der Pubertät. Vielleicht findet diese Szene auf der Schule statt, zu Hause, in der Stadt, im Sommerurlaub bei der kaum bekannten Verwandtschaft, beim ersten Auslandsausflug alleine, egal wo.
Da ist dieser eine Typ – ein Junge, oder ein Mädchen. Du nimmst ihn/sie kaum wahr – er/sie schleicht sich so am Rande herum. Grüßt dich höchstens schüchtern, aber spricht dich nicht an.
Vielleicht merkst du, dass er/sie sich in dich verliebt hat, aber sich nicht traut, dich anzusprechen. Vielleicht merkst du es nicht, nimmst ihn/sie nicht wahr und weißt bis heute nicht, dass er/sie dich damals angehimmelt hat.
Vielleicht interessiert er/sie dir, vielleicht nicht. Vielleicht schmeichelt es dir, vielleicht ekelt er/sie dich an.
Nun stell dir vor: Du bist nicht du, sondern dieser Junge oder dieses Mädchen.
Schreib eine kurze Szene oder Geschichte aus den Augen deines heimlichen Verehrers.
Warum hat er/sie sich in dich verliebt?
Was sieht er, wenn er dich anschaut?
Ist es positiv oder negativ? Eine Mischung aus beidem?
Stimmt es, was sie sieht?
Sieht er dich, wie du dich siehst, oder ganz anders?
Sieht sie Dinge an dir, die wahr sind, aber die du nicht geahnt hast? Sieht sie Dinge an dir, die nicht wahr sind?
Eröffnet das ganz neue Möglichkeiten?
Denk dran: Er ist fiktiv (zumindest, was er denkt) aber du nicht – du bist du, wie du wirklich warst oder bist.
Versuche, dich aus den Augen eines wildfremden Menschen zu sehen, wie du dich sonst nie sehen würdest.
Viel Spass und frohes Schreiben!
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Ich suche einen der Texte als “Roman der Woche” auf!
TOM
Tom lebte im selben Kaff, besuchte dieselbe Schule und hatte ein ähnliches Schicksal wie ich. Wir lernten uns über eine kleine Clique kennen. Ein paar Jungs, ein paar Mädchen, heimlich rauchen, blöde Witze reißen, über die Alten abkotzen. Manchmal gab es Mutproben, zum Beispiel um Mitternacht über den Friedhof laufen, während der Vollmond sein helles Licht auf die Grabsteine warf. Natürlich waren alle dabei, obwohl wir uns vor Angst fast in die Hose machten. Tom war eher der Vernünftige, er wollte keinen Ärger, seiner Mutter nicht noch mehr Sorgen machen. Von der Erkrankung seiner Mutter erfuhr ich, als ich ihn das erste Mal zu Hause besuchte. Eigentlich war er der Einzige aus dem Trupp, der mich nach Hause einlud. Mit den anderen waren es lose Freundschaften, die sich über die Jahre ausleierten.
Tom und ich verloren uns nicht, selbst wenn wir uns längere Zeit nicht sahen. Im Pausenhof ein unverbindliches „Hallo“, wenn wir uns vermissten, telefonierten wir und trafen uns anschließend. Sein Zuhause war für mich schnell ein Zufluchtsort geworden. Obwohl ich aus einer reichen Familie stammte, Tom eher in sehr bescheidenen Verhältnissen mit seinen Eltern lebte, störte mich das nicht. Es spielte für mich keine Rolle, ich schätzte seine Freundschaft, Intelligenz und seinen Witz, obwohl ihm wie auch mir oft nicht zum Lachen war. Unsere Leichtigkeit war auf der Strecke geblieben, in unserem jungen Leben ging es um Suizid, Psychiatrie und Intensivstation. Wir entwickelten mit der Zeit so eine Art Sarkasmus, um mit dem, was uns zugemutet wurde, umzugehen, Überlebensstrategien.
Sowohl meine als auch seine Mutter waren krank, Alkoholikerinnen, abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln und schwer depressiv. Was seine Mutter von meiner unterschied
war der finanzielle Erfolg meines Vaters, der meiner Mutter einen hohen Lebensstandard ermöglichte. Toms Mutter hingegen arbeitete früher als Prostituierte, wurde irgendwann von einem Mann schwanger, der ihr versprach sie aus dem Milieu zu holen, um ihr ein besseres Leben zu bieten. Im Dorf wussten das alle. Besonders die Frauen hatten es auf sie abgesehen, sie mit Verachtung gestraft, was sie mit einem süffisanten Lächeln abtat, hatte sie doch den einen oder anderen Mann dieser intriganten Damen im Bett. Auch meine Eltern waren entsetzt über diese Freundschaft, was mich nicht im Geringsten störte. Mein Leben war geprägt von Verboten und Strafen, wofür nicht zuletzt mein jüngerer Bruder sorgte, stets bemüht mich bei unserem Vater zu diffamieren, um sich in ein besseres Licht zu rücken.
Tom ging sehr rührend mit seiner Mutter um, und wenn sie gerade eine gute Phase hatte, machte sie uns eine Kleinigkeit zu essen, nichts Besonderes wie etwa ein Spiegelei und ein Butterbrot. Wir saßen zusammen in der Küche, und es war einfach schön, herzlich, ich liebte seine Mutter. Ab und zu plauderte sie aus dem „Nähkästchen“, über Perioden, Fruchtbarkeitstage, Erektionen. Das pralle Leben, einfach magisch, und ich spürte ihre unendliche Erfahrung. Sie war voller Wärme und Mitgefühl. Wenn ich traurig war, drückte sie mich an ihren großen Busen und streichelte meinen Kopf. Sie gab mir Zuversicht in einer Zeit, in der mein Leben voller Angst und Kummer war.
Die Krankheit meiner Mutter belastete mich über alle Maßen, die Vertrautheit und Intimität wie ich sie bei Tom fand, kannte ich sonst nicht. Und sie wusste das.
Tom und ich fuhren manchmal einfach mit seinem alten Ford Taunus in der Gegend herum, hielten irgendwann an und hörten Songs aus den 60er-Jahren, rauchten, bis die Scheiben beschlugen, redeten, stiegen aus und tanzten oder waren einfach nur still und für kurze Zeit glücklich.
Tom machte Abitur, ich die Mittlere Reife. Er studierte, ging weg, ich blieb. Wir sahen uns ab und zu an den Wochenenden, wenn er nach Hause kam, dann immer weniger, verloren uns aus den Augen. Jeder von uns lernte einen Partner kennen, verließ ihn wieder oder wurde verlassen. In unserem großen Schmerz, der Unvermeidbarkeit des Liebeskummers, trösteten wir uns ein letztes Mal. An diesem Abend, nach so vielen Jahren, erzählte Tom mir mit Tränen in den Augen, dass ich seine große Liebe war und bin, er aber nie den Mut hatte mir das zu sagen.
Immer wenn ich später Songs aus den 60er-Jahren hörte, dachte ich an ihn. Für mich war er der beste Freund, den man haben kann.
Nachdem jeder von uns bereits eine eigene Familie gegründet hatte, überkam mich letztes Jahr der Wunsch, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Seine Adresse und Telefonnummer fand ich nach einiger Recherche im Internet. Seine Frau meldete sich und ich stellte mich vor. Sie teilte mir mit, dass Tom an einem Lungenkarzinom gestorben sei.