Wellen
Susanne schrieb diese Geschichte auf Impuls Nr. 2, "Dein unbekanntes Kind besucht dich am letzten Tag seines Leben."
Nachdem wir alles geregelt hatten, fuhren wir zusammen ans Meer. Der Winter neigte sich dem Ende zu, die Luft wurde lauer, dennoch gab es Tage, wo noch ein eisiger Wind uns um die Ohren fegte.
Wir zogen uns wetterfest an und gingen zum Strand. Der Junge und ich trugen gelbe Gummistiefel und wie spielten „Wellenfangen“. Wobei das Spiel daraus bestand, sich nicht fangen zu lassen. Also ganz nah an die Wasserkante zu gehen, ja vielleicht sogar ein wenig ins Wasser zu waten, und dann ganz schnell wegzulaufen, wenn die nächste Welle kam. Das Ziel war es, so weit wie möglich an die Grenze zu gehen, aber nie soweit, dass die Welle über den Rand der Gummistiefel schwappt. Der Junge war erst schüchtern, er traute sich nicht so recht, wollte auf keinen Fall nasse Füße bekommen, aber mit der Zeit wurde er mutiger, es war fast, als fordere er das Meer heraus. Und jauchzte jedesmal vor Freude, wenn er wieder eine Welle heraus- gefordert und am Ende gegen sie gewonnen hatte. Auch mir ging das Herz auf. Leben konnte so einfach, so leicht, so freudvoll sein. Für einen Moment vergaßen wir beide den Anlass unseres Hierseins.
Später gingen wir den endlosen Sandstrand entlang. Die Sonne war herausgekom- men und wir so aufgeheizt von unserem Spiel, dass wir unsere Gummistiefel nun in der Hand hielten und barfuß über den trockenen Sand liefen. Unsere Füße sackten ein, die Waden machten sich bemerkbar, manchmal quitschte der Sand unter unse- ren Füßen. Richtig Musik machte er.
Ich packte die Picknickdecke aus und wir setzten uns zwischen das Schilf. Das Kind schaute mich mit seinen großen Augen an, ich ahnte, was kommen würde, es zerriss mir fast das Herz. Doch ich hatte mich hierauf eingelassen, jetzt zu kneifen, wäre nicht fair. Also hielt ich dem Blick stand und wartete.
„Erzähl mir vom Leben.“
Seine kleinen Hände griffen in den Sand. Ich tat es ihm nach, ballte eine Faust um den Sand.
„Weißt du“, sagte ich, „das Leben ist wie dieser Sand.“
Ich öffnete die Hand und spreizte die Finger so, dass der Sand langsam herausrieselte.
„Du kannst es nicht festhalten. Niemand kann das. Eigentlich sterben wir alle von der Sekunde an, wo wir geboren wurden. Bei manchen Menschen rieselt der Sand langsamer, es gibt Menschen die über 100 Jahre alt werden und bei manchen rieselt er schneller.“
Ich schaute ihn an, er hatte es mir nachgemacht, und wiederholte das Spiel immer wieder.
„Wird es weh tun?“ fragte er.
„Die Frage kann ich dir nicht beantworten, aber ich habe tatsächlich Menschen ster- ben sehen und das war jedes Mal sehr friedlich.“
„Erzähl mir davon,“ sagte er.
„Die erste war meine Tochter. Sie gehört zu den Menschen, wo der Sand sehr schnell verrieselt ist. Sie war sooo neugierig auf das Leben, dass sie es in meinem Bauch nicht mehr aushielt. Sie wollte unbedingt schon nachschauen, wie es ist, hier draußen. Aber es war zu früh, sie war erst 5 Monate in meinem Bauch gewesen. Und dann war sie auf einmal da. Sie lag auf meinem Bauch und war so wunder- wunderschön. Ich glaube, ich habe niemals ein schöneres Wesen gesehen. Ihr Lunge war noch nicht ausgereift. Sie konnte nicht atmen.“
Seine Augen schauten mich erschrocken an.
„Ja, das dachte ich auch erst. Ich flehte den Arzt an, er solle etwas tun, dass sie nicht leiden muss. Doch er war ganz ruhig und sagte: ,Sie leidet nicht, sie ist bei der Mama und sie schläft jetzt friedlich ein.‘ Und so war es, ich hielt sie in meinem Arm und sie war ganz ruhig. Ich spürte, wie das Leben sehr langsam aus ihr entwich. Ich staunte und war unglaublich glücklich in der vielleicht schwersten Stunde meines Lebens.“
„Wirst du auch bei mir da sein?“ fragte der Junge.
„Ja, mein Schatz, wenn du das willst, werde ich das.“
„Erzähl weiter.“ Er hatte jetzt neuen Sand geholt und hielt die Faust ganz fest geschlossen.
„Die nächste war meine Schwiegermutter. Die war schon 90 Jahre alt. Sie lag nach einem Schlaganfall im Koma aus dem sie nie wieder aufwachen würde. Deshalb hatten die Ärzte uns vorgeschlagen, sie nicht mehr zu ernähren. Mein Mann und ich wir haben uns abgewechselt, so dass immer jemand bei ihr war. An diesem Tag aber kam mein Mann von seiner Schicht nicht zurück, sondern bat mich, zu kommen, es ginge zu ende. Als ich kam, atmete sie kaum noch.
Mein Mann erzählte mir, er hätte schon vor 10 Minuten gedacht, es sei zu ende, aber dann habe sie noch einmal einen tiefen Atemzug getan. Und auch jetzt war es so. Ich war erst ein paar Minuten da und auf einmal kam ein unglaublich tiefer Atemzug. Sie war ganz friedlich und dann war es still. Ganz still. Im nächsten Moment hörte ich in der Ferne eine Art Donner. Es kam mir fast vor, als hätte Gott die Himmelspforte für sie geöffnet.”
Wir hielten noch lange ihre faltigen Hände.
Der Junge öffnete abrupt seine Faust. Eine Träne kullerte über seine Wange. Aber dann nahm er sich die nächste Faust Sand.
„Und jetzt erzähle mir vom Leben“, bat er mich.
„Das Leben, owei, das ist gar nicht so leicht. Weißt du, wir Menschen, sind eigentlich die ganze Zeit so damit beschäftigt, nicht an den Tod zu denken, dass wir das Leben beinahe verpassen. Aber in Momenten, da spüren wir es. Und dann ist es eigentlich großartig.“
„So wie eben, als wir mit den Wellen tanzten?“
„Ja, ungefähr so. Leben heißt Fühlen. Weißt du nach meiner Tochter, bekam ich noch einen kleinen Sohn, er ist jetzt schon groß, aber er war auch mal ein Baby und ein Kind, so wie du es bist. Ich glaube, ich finde keine Worte dafür, wie es ist, so ein Kind zu haben. Manchmal schimpft man es ganz schrecklich an, behandelt es nicht gut, meist, weil man überfordert ist, mit soviel Lebendigkeit. Ich glaube, wir Erwach- senen sind alle heimlich neidisch auf die Kinder, dass sie noch so staunen können. Wir Erwachsenen haben uns das abgewöhnt. Aber ein Kind zu haben, das kann einem das Staunen wieder beibringen.“
„Das werde ich nicht erleben.“ Der Junge umschloß den Sand in seiner Faust noch fester.
Ich schluckte. Spürte, wie ich abwehren wollte. Aber er hatte ja nur die Wahrheit gesprochen.
„Ja“, sagte ich schließlich.
Er grübelte eine Weile. Aber dann hellte sein Gesicht sich auf, er schaute mich an.
„Das Gute ist ja, ich kann das Staunen gar nicht verlernen. Oder?“
Wir schauten uns lange an. Er rückte näher an mich heran, ließ den Sand nun los und legte seinen Kopf an meine Schulter.
„Aber erzähl mir was über das ganz normale Leben. Wie ist es, erwachsen zu sein?“ „Hast du mich eben mit den Wellen tanzen sehen?“ fragte ich.
Er nickte.
„Nun, so ist vielleicht das ganze Leben. Wir tanzen mit den Wellen. Wir wollen nicht, dass sie uns nass machen, aber wir wollen auch nicht ohne sie sein. Wir gehen Risiken ein, um mit ihnen zu tanzen. Wir stürzen uns in Freundschaften, Situationen, Liebesbeziehungen, Jobs und wir riskieren immer und immer wieder, dabei verletzt zu werden. Und das werden wir. Ab und zu schätzen wir die Wellen falsch ein und dann überschwemmt sie unsere Stiefel, manchmal reißt sie uns sogar mit. Das ist mindestens unangenehm, wenn nicht sogar sehr schmerzhaft. Aber solange wir leben raffen wir uns immer wieder auf. Manche von uns werden sehr sehr vorsichtig, sie wollen sich nicht mehr einlassen, aus Angst vor dem Tod. Und mit dem Tod meine ich nicht nur den echten Tod, sondern so etwas wie den Tod des Egos. Oder dem Gesichtsverlust.“
„Was ist ein Ego?“
„Eigentlich gibt es das gar nicht. Es ist eine Art Hirngespinst. Es ist das, was wir sein wollen, wie wir glauben zu sein, oder sein zu müssen. Es ist, sich Gedanken darüber machen, was andere über uns denken. Es ist ein komplizierte Angelegenheit, aber wir Erwachsenen lieben dieses Ding. Wir brauchen es auch, ohne können wir nicht. Es bringt uns dazu, etwas zu tun. Zum Beispiel wollte ich mit dir ans Meer. Und hier sind wir.“
„Das ist schön.“
„Ja. In dem Falle ja, und manchmal ist es hinderlich. Z.B. beginnen Menschen, die sich einmal so sehr geliebt haben, dass sie unbedingt Kinder miteinander wollten und auch bekamen, auf einmal sich zu hassen. Und nur noch schlechtes über den anderen zu reden. Da können sehr hässliche Dinge passieren. Menschen führen nicht nur die großen Kriege von denen du sicher schon in der Schule gehört hast, sondern auch im Kleinen. Sie bekriegen andere und auch immer wieder sich selbst.“
„Warum tun sie das?“
„Wenn ich das wüsste. Es kommt mir so überflüssig vor und doch kann auch ich mich nicht davon frei machen. Ich denke, es hängt mit diesem Ego zusammen, wir können nicht mit ihm, aber eben auch nicht ohne es.“
„Ist es dann vielleicht gut, dass ich jetzt bald sterben werde?“ Er ist noch näher an mich heran gerückt.
„Ich weiß es nicht, es ist einfach unfassbar traurig. Ich hätte dir gewünscht, dass du deine eigenen Erfahrungen machst. Am Ende ist das Leben wohl das: Erfahrungen machen. Traurig sein und glücklich sein. Verzweifelt sein und Freudentänze auf- führen. Deprimiert sein und zutiefst zufrieden. Es ist das Wechselspiel. Es ist alles und es ist nichts. Und wir wissen alle nicht, wie lange es dauert.“
Danach trat eine lange Stille ein. Irgendwann stand fing der Junge an, seine Füße vom Sand zu befreien, er rubbelte ihn so gründlich ab, wie er konnte, bevor der die Socken und Schuhe wieder anzog.
„Komm‘ lass uns gehen“, sage er.